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Gedanken zum 1. Mai
von Sven Kobelt in Nachrichten, SchlusslichterMit der Bahn fahren ist zwar meistens nicht unbedingt der beste Weg um pünktlich ans Ziel zu kommen, wohl aber einer der besten Wege, während der Fahrt unterhalten und mit den aktuellen Problemen unserer Gesellschaft konfrontiert zu werden. Zumindest an so einem Feier-, Trink- und Reisetag wie dem 1. Mai. Da trifft man friedliche, Sekt trinkende Menschen, die über die Wirtschaftkrise philosophieren und weniger friedliche Mitglieder der rechten Szene, die sich überlegen, wie sie den Kampf gegen die „Antifanten“ (also Antifaschisten) für sich entscheiden können…
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Die Neonazis sind mehrheitlich schwarz gekleidet, kahl geschoren und tätowiert, fast schon ein bisschen zu klischeehaft. Sie treten heute in großer Gruppe auf und fühlen sich besonders stark. Da wird gegrölt, getrunken und geraucht, natürlich auch im Zug. Ein besonders prächtiges Exemplar schreit eine fragwürdige Parole und klagt lauthals über das mangelnde soziale Engagement der Mitreisenden, die alles gelassen hinnehmen. Zwischendurch kommt dann ihr eigentliches Anliegen am heutigen Tage zum Vorschein, welches einfacher nicht sein könnte: Gewalt. „Was wäre, wenn wir jetzt von 50 Antifanten umzingelt wären?“, spornt einer seine Kameraden an. Dann wird fröhlich A. H. imitiert und weiter geht die Reichsbahnfahrt. An deren Ende steht auf dem Bahnsteig dann auch das einzige bereit, was wir als Gesellschaft den Rechten momentan entgegenzusetzen haben (abgesehen von den Antifanten): eine Gruppe grün Gekleideter in voller Montur.
Aber nein, das stimmt nicht ganz. Wenn man die Nachrichten am heutigen Tage liest, haben zum Beispiel die Gegendemonstranten zu einem Neonazi-Aufmarsch in Mainz bewiesen (s. SWR.de), dass geschlossenes und friedliches Auftreten vieler Bürger sehr wohl dazu führen kann, Auftritte Rechter zu verhindern. Wie man es nicht machen sollte, haben dagegen militante Linke in Ulm gezeigt (s. Tageschau.de), die ihrem rechten Pendant in Sachen Gewaltbereitschaft offenbar in nichts nachstehen. Bleibt die Frage, wie man Rechten, vor allem Neonazis, wirklich den Wind aus den Segeln nehmen kann. Da ist das friedliche Verhindern einer Kundgebung zwar ein erster wichtiger Schritt, jedoch wird dadurch wohl kaum ein Umdenken bei den Angesprochenen stattfinden. Tagesschau.de zufolge hat eine aktuelle Studie ergeben, dass inzwischen jeder siebte jugendliche Deutsche stark ausländerfeindliche Einstellungen vertritt, wobei davon vor allem Männer und Hauptschüler betroffen seien (positiv immerhin: die Zahl Gewalttaten unter Jungendlichen ist rückläufig). Der Schritt von der Ausländerfeindlichkeit zur rechtsextremen Gesinnung ist nicht mehr groß, und rechte Parteien wie die NPD nutzen das Unwissen und die Unzufriedenheit der Jugendlichen gnadenlos für ihren Wahlkampf.
Ein Schlüssel zur Prävention solcher Entwicklungen ist sicher die (Aus-) Bildung der jungen Menschen. Leider gilt die Hauptschule inzwischen als Abstellgleis und die Aussichten auf einen Ausbildungsplatz und damit eine Perspektive für das zukünftige Leben sind für deren Abgänger meist schlecht. Viele Jugendlichen landen so in einer schier endlosen Schleife aus Weiterbildungs- und Umschulungsmaßnahmen, an deren Ende häufig die Enttäuschung steht, wieder ein Jahr mehr ohne Ausbildungsplatz dazustehen. Langsam werden sie als Arbeitslose aus der Gesellschaft ausgegrenzt. Zum Beispiel können sie nicht oder nur eingeschränkt am Konsum teilnehmen, über den sich heute so viele in unserer Gesellschaft definieren. Natürlich müssen nicht alle Rechtsextremen automatisch auch arbeitslos sein, genauso wenig wie umgekehrt alle Arbeitslosen rechter Gesinnung sind. Aber fehlendes Selbstvertrauen und mangelnde Anerkennung der eigenen Leistungen durch andere sind der Nährboden, auf dem die Parolen von NPD und Co. Früchte tragen. Sind die Jugendlichen erst einmal in den rechten Strudel geraten, wo sie von den Kameraden nicht ausgegrenzt oder verachtet werden, wird der Weg zurück immer unwahrscheinlicher. Auch weil nun einmal mehr der restliche Teil der Gesellschaft mit Abweisung auf sie reagiert. Aber Abweisung und Ignoranz werden hier nicht weiter führen. Die Betroffenen sind bereits ausgegrenzt.
Am Ende der Bahnfahrt haben dann aber doch wieder alle etwas gemein: Ob Normalbürger oder Neonazi, Bier-, Sektflaschen und alles andere haben sie liegen lassen. Dafür gibt es ja irgendeine ausländische Reinigungskraft, die in Rekordzeit unseren Dreck aus dem Wagen fischen muss, damit dieser nicht zu lange auf dem Abstellgleis stehen bleibt und die nächsten Fahrgäste ohne Ekel mitfahren können.